In der Suchtpolitik läuft einiges schief: Bei legalen Suchtmitteln wird man eher zum Konsum ermuntert, die Prohibition der illegalen birgt für unsere Kinder erhebliche Gesundheitsrisiken.
Wir sind uns einig
2022 hat sich der FAS NRW auf ein Grundsatzpapier verständigt. Wir betroffenen Eltern sind Mitglied im FAS NRW und waren an dessen Erarbeitung federführend beteiligt. In dem Papier werden die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen dargestellt, die alle Verbände im Umgang mit Suchtmitteln für unabdingbar halten und einfordern. Das Grundsatzpapier haben alle NRW-Suchtselbsthilfe-Verbände unter Konsentierung ihrer Bundesverbände unterschrieben. Es kann deshalb als die bundesweite Haltung der Suchtselbsthilfe im Hinblick darauf angesehen werden, wie die deutsche Suchtpolitik zu gestalten ist. Bemerkenswert ist das Papier auch deshalb, weil ein Konsens zur deutschen Suchtpolitik sowohl der in der Selbsthilfe organisierten abstinenzorientierten als auch den Konsum akzeptierenden Betroffenen und ihren Angehörigen erzielt wurde.
Fachausschuss Suchtselbsthilfe Nordrhein-Westfalen (FAS NRW)
In Nordrhein-Westfalen haben sich Landesverbände der Suchtselbsthilfen im Fachausschuss Suchtselbsthilfe (FAS) NRW zusammengeschlossen. In Arbeitskreisen beschäftigen sich Vertreter*innen der einzelnen Verbände mit ausgewählten Themen der Suchtselbsthilfe. Er dient der Auseinandersetzung mit aktuellen suchtpolitischen Fragestellungen, der Identifizierung verbandsübergreifender Positionen der Suchtselbsthilfe, der Entwicklung von Strategien zu deren politischer Durchsetzung und der Förderung von politischer Diskussion und Meinungsbildung in den Mitgliedsverbänden. Der Verband ist einmalig in Deutschland – in keinem anderen Bundesland werden die fachpolitischen Interessen der Suchtselbsthilfe gemeinsam erhoben, abgestimmt und an die Entscheider getragen.
Widersprüchliche Diskussion
Der Erarbeitung des Papiers ging ein intensiver Konsensprozess unter uns Eltern voraus. Die Diskussion war vielschichtig und an manchen Stellen scheinbar widersprüchlich. Einerseits erhoffen wir uns, dass durch die deutsche Suchtpolitik unsere Kinder möglichst wenig mit Suchtmitteln in Berührung kommen – was Verbote und eine prohibitive Suchtpolitik wünschenswert erscheinen lässt. Befremdlich und für uns in der Erziehung schwer zu vermitteln ist allerdings, dass in Deutschland Suchtmittel mit zweierlei Maß gemessen werden: legale, aber sehr gesundheitsschädliche Suchtmittel wie Alkohol, die jederzeit und überall verfügbar sind und behandelt werden, als gehören sie zum Bedarf des täglichen Lebens. Gleichzeitig wird der Erwerb anderer Suchtmittel strafrechtlich sanktioniert.
Prohibitionspolitik schwierig
Die prohibitive deutsche Suchtpolitik wirkt sich nachteilig auf unsere Kinder aus, da die Qualität von Suchtmitteln auf dem Schwarzmarkt nicht kontrolliert wird. In Verbindung mit dem Ziel der illegalen Händler, Kunden schnell abhängig zu machen, birgt dies erhebliche Gesundheitsrisiken für unsere Kinder. Die bisherige Prohibitionspolitik in Deutschland hat nicht verhindert, dass der Konsum illegaler Drogen bei Jugendlichen zugenommen hat und inzwischen als „normal“ angesehen wird. Sie hat dazu beigetragen, dass illegale Drogen gesellschaftlich immer noch tabuisiert werden und die Konsumenten, einschließlich uns Eltern, stigmatisiert werden. Diese Stigmatisierung ist auch die Ursache dafür, dass nach wie vor nicht ausreichend in die medizinische Versorgung der Suchterkrankung und Suchtprävention investiert wird.
Das Positionspapier – unsere Forderungen
Als Eckpunkte bei der Erarbeitung des verbandsübergreifenden Konsenspapieres waren uns deshalb folgende Aspekte wichtig:
- Wir Eltern wünschen uns für unsere Kinder einen möglichst abstinenten Weg durch ihre Kindheit – egal, ob es sich um legale oder illegale Suchtmittel handelt, – damit sie möglichst gesund ihr Erwachsenenleben erreichen. Ziel einer Suchtpolitik sollte sein, die Wahrscheinlichkeit einer Suchtmittelabhängigkeit möglichst gering zu halten. Dabei spielen der Umgang und die Haltung des Erwachsenensystems mit Suchtmitteln sowie die öffentliche Präsenz von Suchtmitteln und Konsum eine entscheidende Rolle. Die Lebens- und Erfahrungsbedingungen unserer Jugend sind so zu gestalten, dass sie möglichst nicht konsumieren und süchtig werden. Andere Länder haben dazu Konzepte entwickelt (siehe zum Beispiel Island*), die als Blaupause dienen können.
- Unsere Kinder sind in der Pubertät durch ihre noch nicht abgeschlossene körperliche und psychische Entwicklung besonders gefährdet, beim Konsum von Suchtmitteln gesundheitlichen Schaden zu nehmen. Sich Glücksgefühle zu verschaffen und Grenzen zu erfahren, gehört zum Menschsein dazu – in der Pubertät ist die Suche danach besonders ausgeprägt. Besonders in dieser Entwicklungsphase muss es ihnen ermöglicht werden, eine möglichst große Kompetenz zu erlangen, damit sie eine bewusste Entscheidung für oder gegen den Konsum treffen können. Diese bewusste Entscheidung erfordert aber fundiertes Wissen, zum Beispiel über Suchtmittelwirkung, kritische Grenzen des Konsums, Achtsamkeit beim Erwerb von Suchtmitteln, Schutz vor Abhängigkeitsentwicklung oder Maßnahmen beim Erkennen einer Suchtentwicklung. Über dieses Wissen sollten unsere Kinder und alle, die für ihre Fürsorge verantwortlich sind, verfügen – inklusive uns Eltern.
- Unsere süchtigen Kinder werden ausgegrenzt, das spüren wir jeden Tag. Wir erleben Schuldzuweisungen, weil wir allein angeblich die Verantwortung für die Sucht unserer Kinder tragen – wir werden als die Verantwortlichen gesehen. Eine Folge davon ist, dass unsere Kinder nicht ausreichend Hilfe bekommen und schnell sozial verelenden. Gleichzeitig vertuschen wir Eltern aus Scham die Sucht unserer Kinder und holen uns selbst auch keine Hilfe. Wir fordern deshalb eine Suchtpolitik, die das „Schuldparadigma“ als vorherrschende gesellschaftliche Haltung zur Suchtentstehung in Deutschland bekämpft.
Wir freuen uns sehr, dass es gelungen ist, diese Eckpunkte in dem gemeinsamen Forderungspapier des FAS NRW zu verankern und mit diesen Forderungen im Konsens und Solidarität mit allen Suchtselbsthilfeverbänden zu sein.
Die Veröffentlichung des Positionspapiers wird begleitet von einer Postkartenkampagne des FAS NRW. Mit provokanten Slogans soll auf die zentralen Forderungen des Papieres verwiesen werden.
*Island reagierte mit einem umfassenden Programm darauf, dass sie 1998 die höchste Konsumrate weltweit von Tabak, Alkohol und Cannabis bei Jugendlichen hatten. Maßnahmen, die im Rahmen des Programms ergriffen wurden, waren zum Beispiel, dass Jugendliche sich ab einer bestimmten Uhrzeit nicht mehr ohne Begleitung Erwachsener im öffentlichen Raum wie Parks etc. aufhalten dürfen, die Freizeitangebote für Jugendliche erheblich ausgebaut und es vom Staat den Eltern finanziell erleichtert wurde, dass diese von den Jugendlichen wahrgenommen werden können. Weiterhin wurden über eine Kampagne Eltern dazu aufgefordert, ihrer Erziehungspflicht mehr nachzukommen, indem sie Zeit mit ihren Kindern verbringen und mit ihnen gemeinsam etwas unternehmen. Durch diese und viele weitere Maßnahmen konnte der Konsum von Suchtmitteln in Island von Schüler*innen im Alter von 15- bis 16-Jährigen erheblich reduziert werden: Der Anteil, die im letzten Monat betrunken waren, fiel von 1988 bis 2016 von 42 auf 5 Prozent; der Anteil, die schon einmal Cannabis probiert haben, fiel von 17 Prozent auf 7 Prozent, der Anteil derjenigen, die täglich Zigaretten rauchen, fiel von 23 auf 3 Prozent. (Quelle: https://planetyouth.org). 2011 hatte Island die niedrigste Konsumrate von Schüler*innen in Europa (Quelle: Die Europäische Schülerstudie zu Alkohol und anderen Drogen [ESPAD], 2011). Das Projekt wird bereits in 29 Ländern erfolgreich eingesetzt. Nicht jedoch in Deutschland (https://planetyouth.org, ein Programm der ICSRA: Icelandic Center for Social Research and Analysis).
Autor*innen: Arbeitskreis Politik im FAS NRW