Gaming und Drogenkonsum: Gleiche Verlockungen und Mechanismen?

Wissen

Fachleute aus dem Online- und Gamingbereich offenbaren überraschende Parallelen: Dem Anreiz, Spiele zu spielen und dem Anreiz, Drogen zu konsumieren liegen die gleichen psychologischen Mechanismen zugrunde.

Der Konsum digitaler Spiele und der Umgang mit Drogen scheinen auf den ersten Blick wenig gemeinsam zu haben. Es gibt allerdings viele Ähnlichkeiten, die für uns Eltern bisher neu sind und die wir gerne näher beleuchten möchten.

Der Reiz des Spielens und die Schwierigkeit des Aufhörens

Kennt ihr den Effekt, dass man, wenn man mal mit einem „Daddel-Spiel“ auf seinem Handy angefangen hat, es einen immer weiter in das Spiel hineinzieht? Man vergisst um sich herum Zeit und Raum, spielt von Level zu Level weiter und gibt evtl. sogar für „Erleichterung“ kleine Beträge für das eigentlich kostenlose Spiel aus. Es fällt uns schwer, das Spiel zu unterbrechen oder es zu löschen. Wie machen die Spiele-Designer das? Markus Wiemker (Lehrstuhlinhaber für Game Design & Management, Hochschulen Fresenius, Köln) und Christian Schaack (Suchtexperte Gaming bei der Fachstelle Prävention der Glücksspielsucht und Medienabhängigkeit in Rheinland-Pfalz) waren beide Designer bei großen Gaming-Herstellern und kennen das Geschäft aus eigener Erfahrung ganz genau.

Ziele der Gaming-Industrie

Die potenziellen Konsumierenden sollen in den Konsum einsteigen und, nachdem der Einstieg erfolgt ist, nicht mehr aufhören. Die Anreize für den Konsum werden so gesetzt, dass die Entscheidung, nicht zu konsumieren oder komplett auszusteigen, sehr schwerfällt. Ziele sind also: sich anmelden (opt in), nicht aussteigen (don’t opt out) und sich nicht nicht anmelden (don’t not opt in).

Grafik zum Thema Opt-in und Opt-out.

Die Gaming-Industrie nutzt ihr Wissen darüber, warum wir durch was „getriggert“ werden, für ihre Ziele. Unseren Konsum-Entscheidungen liegen unabhängig vom Konsummittel oder der Art des Konsums universelle Mechanismen unserer Psyche zu Grunde. Die Gaming-Industrie hat sich viele dieser Erkenntnisse sehr erfolgreich zu Nutze gemacht. Auf Basis dieses Wissen gelingt es ihr, dass wir in die Spiele einsteigen, im Spiel bleiben und viel Geld ausgeben. (Siehe auch Christian Schaack, Koordinierende Fachstelle Prävention der Glücksspielsucht und Medienabhängigkeit in Rheinland-Pfalz.)

Die Mechanismen der Verführung und das positive Konsumerleben

Die Games werden auf Spielertypen maßgeschneidert. Sie sind so ausgelegt, dass sie die Motivatoren und Ziele des jeweiligen Spielertyps abdecken. Die Spielertypen wurden erstmals von Bartle, 1990a, „Who Plays MUAs“ und erweitert in einem Artikel 1996 beschrieben.

Grafik zum Thema Spielertypen. Beschreibung von Killers, Achievers, Socialites und Explorers.

Ist man der Typ „Killer“, wird man sich von Such- und Ordnungsspielen nicht angesprochen fühlen, sondern sich eher für ein Spiel begeistern, in dem man gegen Feinde kämpfen muss. Die Werbe-Bilder und -Videos zu den Spielen sind auf die unterschiedlichen Spielertypen ausgelegt und animieren, das Spiel auszuprobieren, das dem eigenen Typ entspricht.

Warum man spielt

Ein wichtiger Grund ist, etwas umsonst zu bekommen. Über 90 % der Games am Markt sind kostenlos spielbar, also „Free to Play“ (FTP). Einige Spiele nutzen den gleichen Trick wie Online-Casinos und verschenken Startguthaben. Wir werden mit diesem Trick sehr erfolgreich dazu animiert, Spiele auszuprobieren, die wir normalerweise nicht spielen würden.

Warum man im Spiel bleibt

Das Flow-Erlebnis
Obwohl wir ein Spiel eigentlich nur ausprobieren wollten und die mit Spielen verbrachte Zeit nicht im Verhältnis zum objektiven Gewinn steht, gelingt es uns oft nicht, aus dem Spiel auszusteigen. Um das zu erreichen, machen sich die Game-Designerinnen und -Designer den Flow-Effekt zu nutze. Unter dem Flow-Erleben wird dabei das tiefe, (selbst-)reflexionsfreie Aufgehen in einer Tätigkeit bei hohem Engagement, hoher Konzentration und starkem Gefühl der Kontrolle über den Tätigkeitsverlauf verstanden. Im Flow-Zustand kommt es typischerweise zu einem veränderten Zeiterleben: Die Zeit scheint still zu stehen. (vgl. Csikszentmihalyi, M., 1975, Beyond boredom and anxiety). Um diesen Flow zu erleben, müssen die Spielenden das Gefühl haben, dass sie den Anforderungen gewachsen sind und über die passenden Fähigkeiten verfügen. Das Spielgeschehen wird so ausgelegt und der Verlauf so gesteuert, dass die Spielenden sich immer im „Flow-Kanal“ befinden – also nie überfordert werden, aber auch immer wieder neue Anreize bekommen, weiterzuspielen, zum Beispiel um ein nächstes Level zu erreichen oder eine Belohnung zu bekommen. Heute wird auch KI in den Spielen eingesetzt. Mit ihr wird das Spielverhalten in Echtzeit „getrackt“ und Anreize zum Weiterspielen werden zielgenau eingespielt.

Grafik zum Thema FLOW-Erlebnis zwischen Angst und Langeweile.

Soziale Komponenten
Viele Spiele integrieren soziale Elemente: Bestenlisten, gemeinsame Herausforderungen oder direkte Interaktionen mit Freunden. Dies kann zusätzlichen Druck erzeugen, weiterzuspielen, um soziale Anerkennung zu erhalten oder einfach, um mit Freunden in Kontakt zu bleiben, wenn man zum Beispiel zum Spielertyp „Achievers“ und „Socialites“ gehört.

Die Vermeidung von kognitiver Dissonanz
Ein Grund, warum es uns schwerfällt ein Spiel vom Handy zu löschen ist, dass mit der Löschung der Verlust der oft mit viel Zeitaufwand virtuell erspielten Ergebnisse einhergeht und uns dies die Nutzlosigkeit unserer „verdaddelten“ Zeit vor Augen führt. Wenn jemand viel Zeit und Energie in ein Ziel investiert hat, das sich als nicht lohnend oder falsch herausstellt, kann das Eingeständnis, dass die Investition ein Fehler war, zu einem starken Missgefühl führen. Menschen versuchen, dieses negative Gefühl zu reduzieren, indem sie ihr Verhalten oder ihre Entscheidungen rechtfertigen, statt ihre Fehler zuzugeben. Das kann dazu führen, dass sie weiterhin in das Ziel investieren, um nicht zugeben zu müssen, dass alles Bisherige unnütz war. Dies schützt das Ego vor den negativen Gefühlen, die mit dem Eingeständnis von Fehlern verbunden sind. Es ist ein Selbstschutzmechanismus, der dazu dient, das Selbstwertgefühl und die Konsistenz des eigenen Verhaltens zu bewahren. (A Theory of Cognitive Dissonance: Leon Festingers, 1957)

Gewohnheitsbildung
Das regelmäßige Spielen von Handyspielen kann zur Gewohnheit werden, besonders wenn es als Pausenfüller in alltäglichen Situationen wie bei Wartezeiten genutzt wird. Wie Charles Duhigg 2012 in seinem Buch „The Power of Habit: Why We Do What We Do in Life and Business“ sehr anschaulich beschrieben hat, ist es schwierig, Gewohnheiten zu ändern oder zu brechen, besonders wenn sie als angenehme Flucht vor dem Alltagsstress empfunden werden.

Learnings für uns Eltern

Wir finden es zumindest schade, dass die Erkenntnisse über die grundsätzliche Natur des Konsums, der Handlungsmotivation sowie deren Steuerung, wie sie uns von den Gaming-Expert*innen dargestellt werden, nicht auch von den Expert*innen für Drogensucht vermittelt werden.

Wir waren „baff“, wie viel Kenntnisse darüber, warum wir als Menschen etwas tun, die Gaming-Industrie sich zu Nutze macht, sodass sie sich, beginnend mit einfachen Spielen wie „Snake“, bis heute zu einem milliardenschweren Markt entwickelt hat. 2023/24 wurde mit Gaming-Spielen auf PCs und Laptop ca. 1,7 Milliarden Euro Umsatz gemacht, auf Spielkonsolen 2,0 Milliarden Euro und auf Smartphone und Tablets 2,9 Milliarden Euro. (Quelle: game – Verband der deutschen Games-Branche e. V.)

Ein paar Parallelen, die uns zwischen Gaming und Drogenkonsum aufgefallen sind:

Die positiven Seiten des Konsums – warum das Verständnis für uns Eltern wichtig ist

Im Mittelpunkt von Prävention und Suchthilfe beim Rauschmittelkonsum stehen die Risiken und schädlichen Wirkungsweisen des Suchtmittels für die Konsumierenden. Während das klassische Ziel der Suchtprävention darin besteht, den Konsum zu vermeiden, zeigen uns die Gamer*innen, dass dies weder ein realistisches noch ein unserer menschlichen Natur entsprechendes Ziel ist. Wir spielen oder konsumieren, weil es tief in unserer menschlichen Natur verankert ist: Die Suche nach Glück und das Überschreiten von Grenzen sind ebenso Teil unseres Wesens wie unser Bedürfnis nach sozialen Kontakten. Konsum bietet zunächst ein positives Erlebnis, das an sich etwas Schönes ist.

Neue Wege in der Suchtprävention

Wir sind der Meinung, dass, diese Erkenntnisse berücksichtigend, die Suchtprävention nicht nur darauf abzielen sollte, die negativen Aspekte des Konsums zu betonen und zu versuchen, den Konsum generell zu unterbinden. Vielmehr ist es wichtig, Wege zu finden, wie wir konsumieren können, ohne süchtig zu werden. Die verhaltenstheoretischen Grundlagen, die Typisierung und die psychologischen Mechanismen, die uns von den Gaming-Expert*innen vorgestellt wurden, bieten wertvolle Ansätze für diese Ausrichtung. Wenn wir als Eltern das positive „Warum“ des Konsumverhaltens von uns selbst und von unseren Kinder verstehen, wodurch das Verhalten „getriggert“ wird und wie man es schafft auch „Stopp“ zu sagen, können wir unseren Kindern ein besseres Vorbild sein und sie in der Pubertät besser begleiten, wenn sie sich ausprobieren.

Interview mit Prof. Markus Wiemker, Lehrstuhl für Game Design & Management, HOCHSCHULE FRESENIUS, Köln

Was fasziniert dich am Gaming und was ist für dich die Motivation, das sogar zu lehren?

Prof. Markus Wiemker:
Ich finde es sehr spannend zu verstehen, warum wir so gerne spielen und bereit sind, uns in eine andere Welt zu begeben. Auch fasziniert mich, dass es so viele unterschiedliche Ausprägungen des Spiels gibt und wir durch das Spielen so viel über uns selbst erfahren können.

Woher kommt das Wissen, wie man Spiele so programmiert, dass man damit anfängt und möglichst lange damit nicht mehr aufhört? Wer forscht dazu?

Prof. Markus Wiemker:
Grundsätzlich geht es in der Entwicklung erst einmal gar nicht um das Programmieren, sondern wir beginnen zum Beispiel mit einer Erinnerung oder einem Gefühl. Daraus entwickeln wir ein fertiges Konzept, das wir dann umsetzen, testen und verbessern. Ich glaube, ein gutes Produkt oder künstlerisches Erzeugnis reizt immer zur wiederholten Rezeption. Problematisch wird es aber, wenn daraus eine exzessive Nutzung entsteht. In der Forschung gibt es dazu unterschiedliche Ansätze, zum Beispiel die Medienwirkungsforschung, Suchtforschung oder auch die Flowtheorie von Mihály Csíkszentmihályi.

Inwieweit könnte das Know-how der Gaming-Branche dazu beitragen, dass wir die Mechanismen unser „Sucht-Natur“ als Mensch besser verstehen und damit die Sucht auch zu entstigmatisieren?

Prof. Markus Wiemker:
Ich glaube, dass die Spielentwickelnden vieles richtig machen, um Nutzende zum wiederholten Spiel anzuregen – aber das sind eher Erfahrungswerte, innerhalb der Industrie gibt es keine systematische Forschung dazu. Auf der anderen Seite gibt es aber auch Hersteller, die sogenannte „dunkle Muster“ nutzen, um Kaufentscheidungen und Spielverhalten zu beeinflussen. Grundsätzlich glaube ich, dass eine offene und transparente Informationspolitik zu allen relevanten gesellschaftlichen Gruppen, zum Beispiel Spielenden, Forschenden oder regulierenden Institutionen sehr wichtig ist.

Sprichst du mit deinen Studierenden über die Gefahren der Sucht? Sind diese den Studierenden bekannt und bewusst? Sind sie Teil des Lehrplans?

Prof. Markus Wiemker:
Im Laufe des Studiums sprechen wir immer über ethische Fragen in der Spielentwicklung, dazu gehört die Reflektion über das eigene Spielverhalten, aber auch die Frage nach der Verantwortung einer Entwicklerin oder eines Entwicklers.

Was würden du Eltern raten, wie wir den Konsum unserer Kinder begleiten können – wo können wir uns entspannen und es laufen lassen, wann sollten wir uns Sorgen machen und etwas unternehmen?

Prof. Markus Wiemker:
Ich würde klare Zeitgrenzen setzen, mich über die Spiele informieren, zusammen mit den Kindern spielen und über die ausgewählten Spiele und das Konsumverhalten sprechen. Ich glaube, so hat man den besten Einblick in die Welt unserer Kinder. Problematisch wird es immer, wenn eine Form der Rezeption einen sehr großen Raum im Leben von Kindern und Jugendlichen über einen längeren Zeitraum einnimmt.

Symptome der Gaming-Spielsucht

Die Symptome der Gaming Disorder gemäß ICD-11 umfassen:

Die Diagnose einer Gaming Disorder setzt voraus, dass das Verhalten deutlich beeinträchtigend ist und typischerweise über einen Zeitraum von mindestens 12 Monaten feststellbar ist, um eine Diagnose zu rechtfertigen, obwohl der benötigte Zeitraum kürzer sein kann, wenn alle diagnostischen Anforderungen erfüllt sind und die Symptome schwerwiegend sind.

Quelle: ICD-11 – Gaming Disorder (6C51)

Zum Nachlesen

Christian Schaack, Free to P(l)ay – Online Gaming an der Grenze zum Glücksspiel. Wie Glücksspielelemente den Spielemarkt dominieren und das Kulturgut Computerspiel in Verruf bringen.

Prof. Markus Wiemker, Gaming: An der Grenze zwischen Selbst- und Fremdsteuerung. Faszination der Spieler und (dunkle) Muster der Industrie.

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